Konrad Paul Liessmann
ΙΝ DIESER SCHALE EINE GANZE WELT
Guido Kucskos „Epitaph“ variiert den vor allem aus Kirchen bekannten Totengedenkstein in einer ebenso klaren wie verblüffenden Form. Der Erinnerte bleibt anonym, in doppelter Hinsicht: Das Epitaph kennt keinen Namen und keine Lebensdaten; und es signalisiert eine Fremdheit der Welt gegenüber, die mit Heimatlosigkeit nur unzulänglich beschrieben wäre. Das klassische Symbol der Vergänglichkeit, der Totenschädel, ist geöffnet, und seine Leere wird zur eigentlichen Fülle des Daseins. Nicht in dieser Welt, nicht in einer anderen, nicht hier und auch nicht dort erfährt der Mensch seine Existenz, sondern er selbst und alle Welt waren in dieser Schale. Guido Kucsko gestaltet durch die schmucklose, klare, schwarze Granitplatte einen radikalen metaphysischen Solipsismus von höchster ästhetischer Intensität: Wer wir sind, was wir denken und fühlen, was wir von der Welt erfahren und empfinden, was wir für die Welt halten, ereignet sich ausschließlich in unserem Gehirn. Dieses ist mehr als ein Organ, es ist die verdichtete, ihrer selbst bewusst gewordene Existenz. Der Schädel als geöffnetes Gefäß des nun entschwundenen Ich lässt die Endlichkeit des Daseins zu einem eindrücklichen Bild gerinnen. Die Inschrift lässt keinen Zweifel: In unserem Kopf fallen wir mit der Welt zusammen. Aber, und auch daran erinnert das Epitaph: Diese Einsicht ist nur den Toten vergönnt. Die Lebenden müssen in einer Weise um Orte, Identitäten und Zugehörigkeiten ringen, die manchmal in keinen Schädel passen wollen.